Leseprobe: O.R.I.O.N.

Das Transportschiff war klein, alt und alles andere als sauber, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Aber es war schnell und unauffällig. Diese beiden Eigenschaften hatten dem Eigentümer und Kapitän schon oft den Hals gerettet und darüber hinaus auch ein hübsches Vermögen eingebracht.
Dass er ein wohlhabender, wenn nicht sogar reicher Mann war, hielt ihn nicht davon ab, sich seine Dienste mit geradezu grotesk hohen Summen bezahlen zu lassen. Dafür hatte er auch keine Bedenken, sich mit allem und jedem zu messen und die wahnwitzigsten Aufträge auszuführen.
Jerry Brammer kannte den eigenbrötlerischen Kapitän von einigen vorherigen Aufträgen, und so unsympathisch sich die beiden Männer auch waren, war Jerry durchaus zufrieden, dass sein Auftraggeber trotz des immensen Preises dieses Schiff für seinen Auftrag ausgewählt hatte. Geld schien für den großen Unbekannten, der im Hintergrund die Fäden zog, ohnehin kein Thema zu sein.
Das Schiff war so alt, dass es quer über die Stirnwand der Zentrale noch einen Außenbildschirm anstelle der mittlerweile gängigen mehrdimensionalen Projektionsflächen hatte. Unmittelbar vor diesem Bildschirm fand Jerry seinen Partner Hal Fielding. Hal starrte in die Weite hinaus, als könne er allein dadurch den Ablauf der Dinge beschleunigen. Dabei waren sie nur hier, um zu beobachten, und nur im äußersten Notfall, wenn wirklich alles schiefging, einzugreifen. Deshalb waren sie auch nur zu zweit an Bord gegangen, die andere Hälfte seines Teams war auf dem Bergbaumond NA-44.1 zurückgeblieben.
"Laut Zeitplan müssten sie längst hier sein", beschwerte sich Hal. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen.
Jerry warf einen Blick auf den Zeitmesser. "Sie sind noch nicht einmal dreißig Sekunden überfällig", widersprach er, dann schüttelte ihn ein heftiger Hustenanfall.
Hal drehte sich besorgt um. "Alles in Ordnung?"
"Ja, geht schon." Jerry keuchte und rang mühsam nach Luft. "Verdammtes …"
"Strukturerschütterung", meldete da einer von der Brückencrew knapp. "Das erwartete Paket ist knapp achtzigtausend Kilometer vor uns aus dem Hyperraum gefallen."
"So dicht am Mond?", staunte Hal. "Das nenne ich echte Maßarbeit."
"Das Paket startet den Gravoton-Antrieb", verkündete der Mann an den Ortungsgeräten. "Sie werden den Mond voraussichtlich in sechs Stunden erreichen."
"Prächtig." Jerry rieb sich zufrieden die Hände, während er sich zum Kapitän umsah. "Und wir schaffen es wirklich, vor ihnen dort zu sein?"
Der untersetzte Mann grinste überheblich. "In dieser alten Lady stecken sauteure Triebwerke der neusten Generation. Mit so einem lahmen Linienkreuzer nehmen wir es locker auf."
Acht Jahre zuvor
In dem Moment, als das Schiff aus dem Hyperraum fiel, ging ein Raunen durch die Zentrale der Schneewolf. Als Erster Offizier hatte Firan kurz vor dem Wiedereintritt in den Normalraum die holographische Umgebungskarte aktiviert, und da sich diese ständig den äußeren Gegebenheiten anpasste, konnte jeder im Raum sehen, wie ungeheuer knapp neben dem Planetoiden sie herausgekommen waren.
"Abstand?", erkundigte sich Firan.
Meg Phelps, die Pilotin, grinste zufrieden, ehe sie antwortete: "Zwanzigtausend Meter zur Oberfläche."
"Meg, irgendwann bringen Sie uns alle um."
Die Marsianerin lachte nur und wandte sich wieder ihrem Steuerpult zu.
Firan sah sich zu den anderen Anwesenden um. "Ich werde jetzt den Hauptmann verständigen", verkündete er. "Macht euch an die Arbeit."
Augenblicklich brach emsige Betriebsamkeit in der Zentrale aus.
Kommandant Roger Lovington kam herein. Wie immer in einer solchen Situation waren seine ersten Worte: "Wie ist die Lage?"
Firan räumte den Kommandosessel und gleichzeitig hagelte es Informationen. "Ankunft exakt an der berechneten Position."
"Abstand zum Planetoiden zwanzigtausend Meter, gleichbleibend."
"Keine Energieechos in unmittelbarer Nähe."
"Ausdehnung des Asteroidenfeldes weicht um minus acht Prozent von den Werten der letzten Vermessung ab, bei gleichbleibender Masse."
"Wird das ein Problem, Leutnant Phelps?", wollte Lovington wissen.
"Nein, Sir!", antwortete die Marsianerin selbstbewusst.
"Wir bleiben in der Deckung des Planetoiden", ordnete der Kommandant an. "Transpondersignal abschalten. Sensoren auf das vermutete Zielgebiet ausrichten. Wir wollen unsere Gäste ja nicht verpassen." Damit ließ er sich in dem Kommandosessel zurücksinken und vertiefte sich in die Betrachtung des Monitors vor sich.
Der Hauptmann wirkte wie die Ruhe selbst, doch Firan kannte ihn lange genug, um die Zeichen zu erkennen. In Lovingtons grauen Augen funkelte das Jagdfieber, und seine völlige Reglosigkeit war ein klares Indiz für seine Anspannung. Nur wenige Offiziere in der Flotte konnten ihm das Wasser reichen, wenn es um das Aufspüren und Jagen von Schmugglern und Piraten ging. Seine zahlreichen Erfolge hatten ihm den Beinamen "der Wolf" eingebracht, und genau das war er auch in diesem Moment: ein Wolf auf der Jagd.
Heute
Draußen schneite es und ein heftiger Wind fegte um das Gebäude. Im Licht der großen Flutlichtstrahler, die den gesamten Minenkomplex taghell erleuchteten, bildeten die dichten Schneeflocken immer neue verwirrende Wirbel. Wenn man genau hinsah, konnte man den leichten Gelbstich in den Flocken erkennen, der dem hohen Schwefelgehalt der Atmosphäre geschuldet war. Dieser Schwefelanteil bewirkte auch, dass die Atmosphäre des Mondes zwar atembar war, aber fürchterlich stank.
Was für ein trauriges Stück Universum, dachte Simon Bergau, während er vergeblich versuchte, auf der harten Kunststoffbank eine bequemere Sitzposition zu finden. Andererseits, überlegte er weiter, konnten er und die anderen Passagiere des Linienkreuzers nach Bellaris froh sein, dass der Maschinenschaden das Schiff in Reichweite des Bergbaumondes getroffen hatte. So hatte der Kreuzer wenigstens in eine Umlaufbahn um den Himmelskörper gehen und seine Passagiere in der Minenkolonie unterbringen können. Wäre es anders gekommen, so hätten sie eine Weile, eventuell sogar mehrere Tage, mit nur noch minimal arbeitendem Lebenserhaltungssystem im leeren Raum ausharren müssen, bis Hilfe eingetroffen wäre. Nein, entschied der Ingenieur, bei genauer Betrachtung hatten sie es noch recht gut getroffen.
Mit einem leisen Seufzen streckte Simon die Beine von sich, ignorierte das Schneegestöber vor den Fenstern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder einer viel spektakuläreren Aussicht zu. Direkt am Fenster stand seit einer gefühlten Ewigkeit eine Cardo, einer Statue gleich, und wurde es nicht müde, den Schneeflocken draußen zuzusehen. Sie war auffallend großgewachsen und schlank, wobei sich unter ihrer weiten, weich fließenden Kleidung durchaus ansprechend weibliche Formen erahnen ließen. Das Haar floss ihr in dichten, intensiv kobaltblau leuchtenden Wellen über den Rücken bis zur Taille hinunter, durchzogen von vielen Strähnen in kräftigem Violett und hellem Türkis.
Zwar hatte Simon schon viel von den Kolonisten von Cardea, dem zweiten Planeten der Sonne Kore, gehört, jedoch noch nie zuvor einen gesehen. Zumindest die Erzählungen über ihre eindrucksvolle Größe und ihre exotischen Farben waren nicht übertrieben. Er nahm sich vor, herauszufinden, ob es sich mit den vielen anderen Geschichten über die Cardo ähnlich verhielt, am besten, indem er die Frau ansprach und zu einem Kaffee einlud. Gerade, als er sich von seiner unbequemen Bank erheben wollte, um seiner Idee Taten folgen zu lassen, gab die blauhaarige Frau ihren Standort am Fenster auf und kam direkt auf ihn zu.
Skye
Der Typ sah ziemlich verdutzt aus, als ich auf ihn zukam. Mir war schon vor einer Weile aufgefallen, dass er mich beobachtete, und ich hatte mir einen Spaß daraus gemacht, abzuwarten, ob und wann er den Mut hatte, mich anzusprechen. Ihm in genau dem Moment zuvorzukommen, war zugegebenermaßen nicht fair, aber lustig.
Er war ein hübscher Kerl, um die dreißig, hatte dunkle Haare, braune Augen und einen sorgfältig gepflegten Kinnbart, und wirkte eher zurückhaltend. Auf der Nase trug er eine archaische Brille, aber die Lichtbrechung in den Gläsern verriet, dass er sie gar nicht brauchte. Das, zusammen mit einem antiken Magnetschreiber, der in seiner Ärmeltasche steckte, ließ vermuten, dass er eine Schwäche für altertümliche Dinge hatte.
"Ist da noch frei?", erkundigte ich mich und deutete auf ein winziges Stück Bank unmittelbar neben ihm.
Er nickte stumm, die Überraschung schien ihm die Sprache verschlagen zu haben.
Ohne viel Aufhebens ließ ich Tasche und Mantel auf den Boden und mich selbst auf die Bank fallen. Dabei streifte ich wie zufällig seinen Arm.
Endlich fand er seine Sprache wieder. "Simon Bergau", stellte er sich vor.
"Skye ni’Gideon", antwortete ich, ergriff seine dargebotene Hand und lachte im nächsten Moment amüsiert auf, als sein Blick bei Nennung meines Namens automatisch zu meinen Haaren wanderte. Die Leute sahen grundsätzlich immer auf meine Haare, sobald sie zum ersten Mal meinen Namen hörten.
"Nein", beantwortete ich die unausgesprochene Frage. "Meine Eltern haben mir den Namen gegeben, ehe sich meine Farben entwickelten. Außerdem hat der Name nichts mit dem Himmel zu tun. Ich bin nach einer Insel vor der schottischen Küste benannt."
"Klingt, als würden Sie häufig darauf angesprochen."
"Ständig."
"Sicher auch auf alle möglichen Klischees, oder?"
Das war ein wenig plump, aber irgendwie fand ich es auch sympathisch, dass seine Neugier stärker war als sein Taktgefühl. Ich beschloss, es ihm nicht übel zu nehmen. "Sie meinen, ob wir Cardo tatsächlich anarchistisch, tendenziell aggressiv, unzuverlässig und allesamt kriminell sind?"
Jetzt, wo ich es so direkt aussprach, sah Simon doch peinlich berührt aus. "So ungefähr", gab er betreten zu.
"Achten Sie auf Ihre Wertgegenstände, wenn ich in der Nähe bin", empfahl ich ihm und hielt ihm gleichzeitig einen länglichen, silbern schimmernden Gegenstand entgegen.
Sein Gesichtsausdruck war herrlich anzusehen, als er seinen antiken Magnetschreiber erkannte, unwillkürlich tastete er zu seiner Ärmeltasche. Also hatte er tatsächlich nicht bemerkt, dass ich ihm das wertvolle Stück stibitzt hatte. Nun nahm er es entgegen und verstaute es wieder dort, wo es hingehörte, während ich mich zusammenreißen musste, ihn meine Belustigung nicht anmerken zu lassen. Ich versagte kläglich.
"Quod erat demonstrandum", zitierte er, als er mein Grinsen bemerkte, und musste selbst lachen.
Ich überraschte ihn gleich noch einmal, als ich ihn fragte: "Ach, war es das?"
Simon schien erfreut darüber. Offenbar war es mir gelungen, Eindruck zu schinden, denn die Wenigsten wussten heutzutage noch um die Bedeutung des uralten, lateinischen Satzes. Ehe er jedoch darauf eingehen konnte, spürte ich, wie die altbekannte Unruhe in mir aufstieg, die mich immer dann ergriff, wenn ich zur Untätigkeit verdammt war.
"Ich hasse dieses Warten", bekannte ich und erhob mich wieder von der unbequemen Kunststoffbank. "Ich gehe mir ein wenig die Füße vertreten."
Simon sah enttäuscht aus, nickte aber. "Dann bis später."
Fast tat er mir leid, als ich mir meinen Mantel schnappte und den Aufenthaltsraum verließ.
Acht Jahre zuvor
"Warum muss dieser Mistkerl eigentlich immer die miesesten Winkel der Galaxis für seine Übergaben aussuchen?", fluchte der Kapitän und verfolgte auf dem Frontbildschirm, wie sich unmittelbar vor ihnen Abertausende von Asteroiden in einem langsamen, aber gefährlichen Tanz bewegten.
"In dieses Feld ist noch nie ein Jäger der Commonwealth-Flotte geflogen", gab sein Teilhaber Ruiz zu bedenken. "Die haben da einen Riesenrespekt vor."
"Ich auch", knurrte der Pilot vor ihnen.
"Versteh ich gut", erklang eine Frauenstimme von hinten.
"Parrot, Klappe halten", blaffte der Kapitän. "Red nur, wenn du was zu sagen hast, klar?"
Ihm antwortete Schweigen.
Er wandte sich seinem Teilhaber zu. "Ich kann immer noch nicht glauben, dass du diese Kleine angeschleppt hast. Was hast du dir dabei gedacht?"
"Sie ist doch süß, Diego", meinte Ruiz, "und bis jetzt hat sie auch prima navigiert."
"Bis jetzt", wiederholte der Kapitän missmutig. "Aber nun hängen unsere verdammten Ärsche davon ab, dass sie’s hinkriegt."
"Parrot, hast du den Korridor gefunden?", wandte sich Ruiz ohne weiteren Kommentar von seinem Partner ab.
"Koordinaten ermittelt und an Piloten weitergegeben."
"Dann los!"
Während der Pilot die Impulstriebwerke hochfuhr und die angegebenen Koordinaten ansteuerte, ging Ruiz zu der Navigatorin hinüber. "Um wie viel ist das Feld kleiner geworden?", erkundigte er sich.
Die junge Frau mit den wallenden blauen Haaren überflog kurz ihre Anzeigen und sah dann mit ebenso leuchtend blauen Augen zu ihm auf.
"Minus eins Komma fünf Prozent."
"Verdammt, die alten Daten sind gerade mal zwei Monate alt. Lange können wir’s nicht mehr riskieren, da reinzufliegen. Es wird immer enger." Er sah die Navigatorin zweifelnd an. "Und du hast auch wirklich verstanden, was der alte Viktor dir über das Asteroidenfeld gesagt hat?"
"Hast du mich wegen meiner hübschen, blauen Augen eingestellt?", erhielt er prompt als Gegenfrage. "Oder, weil ich deinen alten Navigator in Grund und Boden gerechnet habe?"
Ein gewaltiger Schlag erschütterte in dem Moment das Schmugglerschiff und rettete Ruiz davor, antworten zu müssen.
Diego fluchte laut und unflätig. "Parrot, du unfähige Schlampe!", brüllte er danach los.
Die junge Frau warf ihm einen bösen Blick zu.
"Wir sind noch genau auf Kurs", widersprach sie unbeeindruckt. "Das war kein Asteroid."
"Treffer!", verkündete der Feuerleitoffizier. "Genau ins Schwarze!"
"Überlichttriebwerk und Relativfeld-Projektor des Schmugglers sind zerstört", kam die Meldung der Ortung.
Ein zufriedenes Lächeln huschte über Roger Lovingtons Gesicht. "Volle Beschleunigung", ordnete er an. "Wir schnappen sie uns, ehe sie zwischen den Asteroiden untertauchen."
"Was war das?", herrschte Ruiz die Frau am Ortungsgerät an.
"Vermutlich Geschützfeuer", erhielt er zur Antwort. "Ich empfange ein Energieecho, aber keinen Transpondercode. Echo kommt schnell näher."
"Ist das McGinty?", ereiferte sich Diego. "Will der mich aufs Kreuz legen?"
"Ist doch egal", meinte Ruiz. "Machen wir, dass wir wegkommen. Volle Beschleunigung, und dann springen wir."
"Askalon-Moderator ist Schrott", meldete der Pilot. "Glatt weggeschossen."
"Verdammt!", fluchten Diego und Ruiz daraufhin unisono. "Der Wolf."
Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen in der kleinen Zentrale.
Die Navigatorin unterbrach die Stille schließlich mit einem verständnislosen: "Wer?"
Ihre Frage befreite die Anderen aus ihrer Starre.
"Echo beschleunigt weiter", meldete die Ortung. "Kommt schnell näher."
"Wir müssen hier weg, und zwar flott!"
Ruiz sah Diego an. "Aber wie?"
"Zwischen die Asteroiden."
Die beiden Männer sahen sich erstaunt nach der Navigatorin um.
"Die werden versuchen, uns den Weg dahin abzuschneiden", fuhr die junge Frau ungerührt fort. "Aber wenn wir Glück haben, unterschätzen sie unsere Beschleunigung."
Ruiz grinste bei dem Gedanken an die nachträglich aufgemotzten Impulstriebwerke.
"Das machen wir", entschied er über Diegos Kopf hinweg und nickte dem Piloten zu.
"Und du", er zeigte fordernd in Parrots Richtung, "bringst uns da durch."