Leseprobe: Nachtwanderer

Cover Nachtwanderer

2. Durch die Nacht

"Ach, verflixt", schimpft Cedric plötzlich neben ihr los. Nuála löst ihre Aufmerksamkeit nur widerwillig von der großen Waffel voll Schokoladeneis, mit der sie sich die letzten Minuten so hingebungsvoll beschäftigt hat, und blickt zum Beifahrersitz hinüber. Unwillkürlich muss sie lachen, als sie das verärgerte Gesicht sieht, mit dem Cedric das Rinnsal geschmolzener Eiscreme betrachtet, das die Waffeltüte hinunterrinnt und sich als wachsender Klecks auf seiner Uniformhose ausbreitet.

Sie schaut auf ihr eigenes Eis, das gerade erste Anzeichen von Tauwetter zeigt, während seines schon völlig zerlaufen ist. "Du hast einfach zu viel Hitze, schöner Mann", kommentiert sie.

Cedric sieht zu ihr herüber und seine Augen, geradezu unglaublich grün und mit einem silbern schimmernden Ring um die Iris, funkeln sie verschmitzt an. "Wenn du wüsstest, Kleine, wenn du wüsstest ..."

Nuála langt in die hintere Kabine, zupft einige Papiertücher aus dem Spender und gibt sie Cedric. Dabei überlegt sie, dass sie Julia vorhin ein wenig angeschwindelt hat. Cedric und sie flirten doch miteinander, und nicht zu knapp; allerdings ist sie stets bemüht, sich einzureden, dass es nur scherzhaft ist.

"Nicht sehr effektiv", stellt Cedric nach einer Weile resigniert fest, und gibt seine Bemühungen auf, den Fleck aus seiner Hose zu tupfen. "Ich werde mich wohl umziehen müssen."

Nuála grinst still in sich hinein. Auf diese Bemerkung hat sie gewartet. Für Cedrics enorme Eitelkeit gibt es vermutlich kaum etwas Schlimmeres, als in einer verschmutzten Uniform herumzulaufen. Verschmutzungen durch Einsätze einmal ausgenommen.

"Fahren wir zurück", sagt sie darum. "Wir müssen sowieso den Wagen auffüllen."

Cedric wirft einen Blick über die Schulter in die dunkle hintere Kabine. "Für eine Materialschlacht würde es noch reichen", behauptet er gedehnt.

"Klar", stimmt Nuála ironisch zu. "Wir haben ja heute auch noch nichts getan."

Er sieht auf die Uhr. Es ist vier Sekunden nach Mitternacht. "Heute tatsächlich noch nicht."

"Hm", brummt Nuála verdrießlich. Sie hasst es, ihm Recht gegen zu müssen, besonders, weil er in der Tat praktisch immer Recht hat.

"Wir schaffen es erst gar nicht bis zurück", sagt sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, und schmunzelt zufrieden.

Cedric sieht zu Nuála hinüber und seufzt. Ihre Trefferquote bei Vorhersagen dieser Art ist so gespenstisch hoch, dass er längst aufgehört hat, ihre Prognosen anzuzweifeln.

Nuála hat gerade den Motor gestartet und den Wagen anrollen lassen, als die Piepser der beiden losgehen. Gleichzeitig wird das Display des Bordcomputers hell.

"Da randaliert ein Betrunkener in einem Supermarkt", liest Cedric Nuála vor. "Wir sollen hin, falls sich einer von den Polizisten ein blaues Auge holt." Dann liest er ihr die Anfahrtsdaten vor. "Das ist doch Theos Revier."

"Den hatten wir schon lange nicht mehr", stellt Nuála fest.

"Kein Wunder", meint Cedric, während seine Kollegin vorsichtig bei Rot in eine mäßig befahrene Kreuzung einfährt. Einige

Autos kommen neben ihrem Wagen mehr oder weniger chaotisch zum Halten. "Der hat doch gesessen."

"Ach", entfährt es Nuála überrascht.

Kurz darauf sind sie bei der angegebenen Adresse. Aus der anderen Richtung kommen zwei Streifenwagen der Garda angerauscht und bleiben neben ihnen stehen.

"Es ist tatsächlich Theo", stellt Nuála nach einem Blick nach draußen fest und steigt aus.

Sie zieht den Kragen ihrer Einsatzjacke hoch, denn der unangenehme Nieselregen, der schon vor Stunden in Dublin Einzug gehalten hat, hat noch immer nicht aufgehört.

Vor dem Auto trifft sie auf die vier Polizisten, die schon ihre Schlagstöcke in den Händen haben.

"Guten Morgen", grüßt sie fröhlich und deutet auf die Stöcke. "Die braucht ihr nicht."

Die Polizisten sehen sie irritiert an. "Hä?", macht einer.

"Ich sagte, ihr braucht die Schlagstöcke nicht", wiederholt Nuála, deutlich amüsiert. "Wir kennen den Kerl. Der tut nichts."

Die Polizisten sehen durch die offene Tür in den kleinen Supermarkt. Ein Regal ist umgekippt und Waren liegen kreuz und quer verstreut. Ein großer Blumenkübel ist umgestoßen, zwei Kassiererinnen und einige Kunden drängen sich verängstigt hinter der Ladentheke und inmitten des Chaos steht schwankend ein riesiger Kerl und fuchtelt mit einer langen, dünnen Plastikpalme in der Luft herum, die er allem Anschein nach aus dem Blumenkübel gerissen hat. Sein Brüllen ist bis auf die Straße zu hören.

"So, so, der tut nichts", sagt einer der Polizisten, und seinem Ton ist deutlich anzuhören, was er über Nuálas Behauptung denkt. "Lass mal gut sein, Kleine. Wir machen das schon."

"Ihr kommt nicht in einem Stück wieder heraus, wenn ihr so da reingeht", warnt Cedric. Inzwischen steht er mit der Einsatztasche über der Schulter neben Nuála und sieht seine Kollegin an.

Sie brauchen nur eine Sekunde, um sich wortlos zu verständigen.

Nuála greift in ihren Nacken und löst die Spange, die ihre Haare zusammenhält. Augenblicklich springen ihre kaffeebraunen Korkenzieherlocken frech in alle Richtungen und plötzlich sieht sie um Jahre jünger aus.

Cedric schaut ihr amüsiert zu. Er kennt die unglaubliche Wirkung dieses Manövers. So, wie sie jetzt aussieht, strahlt Nuála eine geradezu kindliche Unschuld aus; gerade genug, um bei den meisten Menschen unterbewusst Beschützerinstinkte zu wecken. Er kann sich nicht erinnern, dass sie damit je erfolglos gewesen ist.

Ohne auf die Polizisten zu warten, dreht sich Nuála um und betritt den Laden.

Erschrocken wollen die Männer ihr nacheilen, aber Cedric verstellt ihnen den Weg. "Langsam. Sie kriegt das hin."

Dann führt er die vier Polizisten in den Supermarkt und sorgt dafür, dass sie tatsächlich direkt an der Tür stehen bleiben.

Nuála ist inzwischen über Pakete voll Kekse, Brot und Cornflakes hinweg bis zu dem Tobenden vorgedrungen. Neben dem Koloss von fast zwei Metern und gut dreihundert Pfund wirkt sie noch zerbrechlicher als sonst. Geschickt duckt sie sich unter der Palme weg, die in ihre Richtung geschwungen kommt.

"Theo", ruft sie dem Randalierer zu.

Tatsächlich verstummt daraufhin das Gebrüll, und der Blick zweier trüber Augen in einem fetten Gesicht richtet sich auf sie.

"W-wasch w-willsch ‘u denn?", fragt der Koloss mit schwerer Zunge.

"Nur mit dir reden", antwortet Nuála fröhlich.

Theo fuchtelt mit der Palme so wild in ihre Richtung, dass die Polizisten hinter Cedric noch nervöser werden. "Sollen wir der Kleinen nicht wenigstens Rückendeckung geben?", erkundigt sich einer bei ihm.

"Wozu?", fragt Cedric. "Sie hat doch alles unter Kontrolle." Dann deutet er auf die Gruppe hinter der Theke. "Vielleicht schafft ihr schon mal unauffällig die Leute hier raus", schlägt er vor.

"D-disch kenn’isch doch", nuschelt Theo.

Nuála fängt die Palme ein, als diese wieder knapp an ihr vorbeisaust, und zieht vorsichtig daran. "Klar", bestätigt sie dabei. "Wir hatten diese Situation doch schon öfter."

Um die Plastikpflanze entwickelt sich eine Art Tauziehen, und es zeigt sich, dass Nuála erneut Erfolg hat. Theo scheint es nicht übers Herz zu bringen, seine Bärenkräfte gegen sie einzusetzen und ihr seine ungewöhnliche Waffe einfach wieder zu entreißen.

Die beiden Polizisten, die bei Cedric stehen geblieben sind, sehen dem seltsamen Spiel fasziniert zu.

"Hasch’ du nich’ noch’n Kumpel, der sons’ immer dabei isch?", fragt Theo.

"Cedric", antwortet Nuála und deutet zur Tür. "Der ist da vorne und beschäftigt die Polizei, damit wir nicht gestört werden."

Sein glasiger Blick irrt in die gezeigte Richtung. "Dasch is’ n-nett", nuschelt Theo und streckt seine riesige Pranke Cedric entgegen. "Du bisch in O-ordnung, Kumpel", ruft er.

"Du auch, Theo, du auch", antwortet Cedric und winkt grüßend zurück.

Inzwischen haben die beiden Polizisten die Leute nach draußen geschafft. Cedric stellt das fest, als er sich kurz umsieht. "Dann kommt jetzt das Schwierigste.“

"Das wäre?", erkundigt sich ein anderer Polizist.

"Ihn zu überzeugen, mit euch mitzugehen."

Der Polizist rümpft die Nase. "Könnt ihr das nicht machen?", fragt er.

Cedric schüttelt den Kopf. "Er ist nicht verletzt und seine Gesundheit ist nicht bedroht", erklärt er. "Er ist nur betrunken. Kein Krankenhaus wird ihn uns abnehmen. Der Junge gehört euch."

"Toll", brummt der zweite Polizist wenig begeistert.

Inzwischen hat Nuála die Palme erobert und hinter sich in eine Ecke geworfen. "Theo, wo schläfst du heute Nacht?", erkundigt sie sich.

"Im Lux... äh, Luxushotel", erhält sie zur Antwort.

Sie schaut zu Cedric hinüber und sieht, wie er mit den beiden Polizisten bezeichnende Blicke wechselt. Das "Luxushotel" ist ein baufälliges, leer stehendes Lagerhaus in der Nähe des Flughafens, das ihnen allen als Unterschlupf für Obdachlose bekannt ist.

"Das ist ja auf der anderen Seite der Stadt, Theo", gibt Nuála zu bedenken. "Wie willst du dahin kommen? Es regnet wie aus Kübeln. Was hältst du von ..."

Weiter kann Cedric nicht zuhören, denn einer der Polizisten tippt ihm auf die Schulter.

"Draußen ist eine Kassiererin", sagt er. "Sie meint, ihr wird schlecht. Kommst du?"

"Klar."

Mit einem Blick auf Nuála rafft Cedric die Tasche vom Boden auf und folgt dem Polizisten nach draußen.

Wie er bereits vermutet hat, ist der Zustand der Frau nicht wirklich ernst und es bedarf nur ein, zwei Minuten guten Zuredens, bis sie sich von ihrem Schrecken erholt hat und sich wieder besser fühlt.

"Jetzt sieh dir das mal an", ächzt der Polizist, der neben Cedric steht, plötzlich, und sein Gesicht ist ein Musterbeispiel grenzenlosen Staunens.

Cedric dagegen ist nicht im Mindesten überrascht, als er sich umdreht und Nuála sieht, die gerade aus dem Supermarkt kommt, gefolgt von Theos kolossaler Gestalt. Sie führt den Riesen an der Hand, und der trottet schwankend, aber brav hinter ihr her. Souverän dirigiert sie ihn bis in einen der Streifenwagen, schlägt die Wagentür hinter ihm zu und schenkt den staunend dastehenden Polizisten ein gewinnendes Lächeln.

"Das war’s", verkündet sie und versucht, ihre widerspenstigen Locken wieder mit der Spange zu bändigen. "Ruhige Nacht noch!" Dann steigt sie in ihren Wagen.

Cedric verstaut die Einsatztasche und steigt auf den Beifahrersitz. "Ruhige Nacht noch", wünscht auch er den Polizisten. "Ruft uns wieder, wenn ihr Hilfe braucht."

Dann zieht er eilig die Tür zu, während Nuála geradezu hemmungslos grinst. "Gib Gas", drängt er sie. "Der letzte Spruch war vielleicht etwas zu viel."

"Vielleicht wäre eine Nacht in einer Zelle mal angebracht", meint Nuála, während sie anfährt, "deinen Übermut etwas abzukühlen."

(…)

Es ist einer der höchst seltenen Momente, in denen das Team der Nachtschicht vollzählig im Bereitschaftsraum vertreten ist. Erst vor wenigen Minuten sind Declan und Sean mit Wagen 2 wieder in der Wache eingetroffen, und fläzen sich nun genüsslich in den gemütlichen Liegesesseln. Die Uhr über der Tür zeigt kurz vor sechs Uhr, eine Zeit irgendwo zwischen Nacht und Morgen, zu der es sich nicht mehr wirklich lohnt, die Ruheräume im Obergeschoss aufzusuchen. Deshalb lümmeln alle dösend in den Sesseln herum; alle außer einem Kollegen von Wagen 1. Peter hockt vor der nagelneuen Stereoanlage, die erst seit drei Tagen das Regal im Aufenthaltsraum schmückt, hat sich dicke Kopfhörer über die Ohren gestülpt und zappt einen Stapel CDs durch.

"Es gibt schon blöde Leute", verkündet Declan plötzlich völlig zusammenhanglos. Nur sein Partner scheint zu wissen, was er meint, denn er gibt ein zustimmendes Brummen von sich.

"Wieso?", fühlt sich Mike, der Zweite von Wagen 1, genötigt zu fragen.

"Die Frau, die wir eben geholt haben", berichtet Declan, "wollte sich umbringen. Dafür trinkt sie eine Flasche Whiskey und setzt sich dann ans offene Fenster, damit sie erfriert."

Cedric blinzelt mit einem Auge in Declans Richtung und signalisiert so ein gewisses Interesse. "Wir haben Mai."

"Ja, eben."

"Es gibt schon blöde Leute."

"Sag ich doch."

Dann senkt sich wieder schläfrige Stille über den Raum.

"Hey, Leute", ruft da plötzlich Peter vor der Stereoanlage. "Ich habe hier genau die richtige Musik für euch Schlafmützen. Echt toll."

Seine Stimme trieft vor Ironie, und so ist es für die anderen fünf nicht schwer zu erraten, welche Art Musik er wohl meint. Peter ist ein glühender Verfechter von Fortschritt und Innovation, der für Traditionen und Bräuche im Allgemeinen und für das Traditionsbewusstsein der Iren im Besonderen, nur Spott und Hohn übrig hat. Und wie erwartet ist es traditionelle irische Tanzmusik, die er grinsend aufdreht.

Schon eine Weile sucht das Nachtschichtteam nach einer Gelegenheit, Peter einen kleinen Dämpfer zu verpassen, und Nuála erkennt die lange erwartete Chance. Ehe Peter die Musik wieder abdrehen kann, springt sie aus ihrem Sessel auf. "Die Musik ist tatsächlich toll", behauptet sie munter.

Und dann beginnt sie zu tanzen.

Leichtfüßig schwebt sie mit schnellen Schritten durch den Raum, kreuzt die Beine bei anmutigen Sprüngen, die wirken, als hätte die Schwerkraft nicht länger Gültigkeit für sie, und dreht sich, dass ihre Locken nur so um ihren Kopf wirbeln. Ein strahlendes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht und mühelos verwandelt sie den engen Aufenthaltsraum in eine Tanzbühne, von der aus sie ihr Publikum bezaubert.

Peters Kinnlade sinkt vor Staunen beinahe auf seine Brust. Doch auch die anderen Männer sitzen plötzlich hellwach in ihren Sesseln und sehen Nuála fasziniert zu. Es ist kein Geheimnis, dass sie Tänzerin ist und zahlreiche nationale und internationale Wettbewerbe gewonnen hat. Sogar bei den drei Weltmeisterschaften, an denen sie teilgenommen hat, ist sie stets in die Endausscheidung gekommen, und sie hat auch schon bei Veranstaltungen und Feiern für ihre Kollegen getanzt. Aber was sie ihnen gerade bietet, stellt alles Vorherige in den Schatten.

Wie sie tanzt, so spontan, in ihrer Uniform, auf Strümpfen, und im Halbdunkel des Aufenthaltsraumes, verbreitet sie einen eigentümlichen Zauber.

Die Musik wird schneller und schneller, und Nuálas Bewegungen folgen mühelos dem Rhythmus. Nur auf ihren Fußballen, und mitunter sogar nur auf den Zehenspitzen, schwingt sie sich spielend leicht zu immer neuen Schritten und Sprüngen auf, die schließlich so schnell sind, dass die Zuschauer kaum noch die einzelnen Bewegungen unterscheiden können. Dabei verliert sie nichts von ihrer Anmut, wird vielmehr immer graziöser.

Peter hat längst vergessen, dass er eigentlich den Off-Knopf drücken wollte. Gebannt wie alle anderen sieht er Nuála zu und zuckt erschrocken zusammen, als die Musik mit einem letzten Akkord endet. Während auf der CD bereits das nächste Stück beginnt, starrt er Nuála einfach weiter an. Sie hat zum letzten Takt aus einer Drehung heraus anmutig innegehalten und steht nun lächelnd da, aufrecht und schlank wie ein Grashalm, den rechten Fuß grazil vor den linken gekreuzt, ein wenig atemlos und mit leicht geröteten Wangen.

Dann tobt der Beifall los, und es ist kaum zu glauben, dass es nur fünf Männer sind, die diesen Tumult veranstalten. Es ist so laut im Raum, dass sie alle beinahe die Piepser überhören, die an Cedrics und Nuálas Gürteln losgehen.

Augenblicklich ist der zauberhafte Flair, den Nuála verbreitet hat, verschwunden – wie fortgewischt –, und macht professioneller Eile Platz. Die Füße, die eben noch alle in ihren Bann geschlagen haben, verschwinden in schweren Dienststiefeln, und dann sind Cedric und seine Partnerin auch schon aus dem Aufenthaltsraum heraus. Die Verbliebenen hören das Hallentor hochfahren und den Fahrzeugmotor anlaufen.

"Wohin?", fragt Cedric. Er hat den Fahrersitz übernommen, damit Nuála noch ein wenig zu Atem kommen kann.

"Finglas", liest sie ihm vom Bordcomputer vor. "St. Helena’s Road. Irgendwo am Zaun der dortigen Schule."

"Finglas", wiederholt Cedric. "Ziemlich weit raus. Sind wir da eigentlich noch zuständig?"

"Ich glaube nicht. Eigentlich ist für uns spätestens am Royal Canal Schluss."

"Dann scheint der Norden ja ziemlich beschäftigt zu sein", stellt Cedric fest. "Wenn sie schon uns holen müssen, um ihre Arbeit zu machen ...“

Nuála seufzt und hebt ergeben die Schultern.

"Welches wäre das nächste Krankenhaus?", fragt er nach einer kurzen Pause.

Nuála blättert in einer Übersichtskarte. "Das Bon Secours in Glasnevin", liest sie ihm vor und hört sein leises Schnauben. "Gut, dann kann ich noch in Richtung Nordwesten das St. Mary’s in Cappagh anbieten, oder, ganz weit weg, das St. Brendan’s Richtung City Center, und durch Whitehall durch das Beaumont."

"Na, prächtig", kommentiert Cedric. "Dann lass uns erst einmal sehen, was uns überhaupt erwartet. Was sagt die Zentrale?"

"Angriff durch ein Tier."

"Für den Postboten mit Hundebiss ist es doch eigentlich noch zu früh", stellt Cedric vergnügt fest.

Die Signallampen eines Streifenwagens weisen ihnen den Weg zu ihrer Einsatzstelle, als sie die St. Helena’s Road hinaufkommen. Der Wagen steht auf der Einfahrt der schmalen Straße neben dem Schulgelände. Ein zweites Fahrzeug der Garda ist den Weg ein Stück hinaufgefahren und parkt am Ende des stählernen Zauns.

Einer der Polizisten, die sie schon früher in dieser Nacht im Supermarkt getroffen haben, kommt ihnen entgegen. "Dort hinten müsst ihr hin." Er deutet den Weg hinunter. "Allerdings glaube ich nicht, dass ihr da noch gebraucht werdet."

Mit einem Schulterzucken rückt Cedric den Gurt der Einsatztasche zurecht. "Wir sehen uns das mal an", erklärt er und marschiert davon.

Der Polizist sieht Nuála an. "Jetzt ist er mal der Aktive?", fragt er doppeldeutig.

Sie geht prompt darauf ein und antwortet: "Klar. Wir gestalten unsere Nächte immer so abwechslungsreich wie möglich."

Sie zwinkert ihm zu und beeilt sich dann, Cedric einzuholen. Sie erreicht ihn kurz vor einem Gebüsch, vor dem ein weiterer Polizist steht und ihnen mit seiner Taschenlampe entgegenwinkt.

"Sorry, Freunde, aber hier erreicht ihr wohl nichts mehr", begrüßt er sie.

Nuála sieht einen seltsamen Schatten über Cedrics Gesicht huschen, dann stellt er die Tasche neben ihr ab.

"Wartest du hier?", fragt er. "Es reicht wohl, wenn einer von uns nachsieht und der Spurensicherung ihre Hinweise zertrampelt."

"Wohl wahr", pflichtet der Polizist ihm gedehnt bei.

"Geh nachsehen", ermuntert Nuála ihren Partner neckend. "Befriedige deine voyeuristischen Neigungen."

Dann sieht sie zu, wie sich die beiden Männer vorsichtig einen Weg um das Gebüsch suchen.

Der Polizist leuchtet ihm mit der Taschenlampe über die Schulter, als Cedric neben dem verkrümmt daliegenden Körper eines älteren Mannes in die Hocke geht. Zwar bricht gerade die Dämmerung an, doch hinter dem Busch ist es völlig finster.

Im Lichtkegel der Lampe bemerkt Cedric zuerst die unnatürliche Blässe des Mannes. Natürlich sind alle Leichen in gewisser Weise blass, aber die Haut dieses Toten ist fast kalkweiß.

Am Hals des Mannes entdeckt Cedric zwei punktförmige Wunden.

"Unheimlich, was?", murmelt der Polizist hinter ihm. "Sieht aus wie in einem dieser Horrorstreifen im Kino. Was glaubst du, spuken vielleicht Vampire durch Dublin?"

Cedric schaut über die Schulter zu dem Mann hinauf. "Na, das wollen wir doch nicht hoffen, oder?"