Leseprobe: Ghetto 7

Cover Ghetto 7

Zum vielleicht zehnten Mal in ebenso vielen Minuten versuchte ich, möglichst unauffällig unter meiner Atemschutzmaske zu gähnen, was gar nicht so einfach war.

Für diesen Donnerstag hatte unser Einsatzleiter die Deadline für eine Undercover-Ermittlung gesetzt, die Jeff und ich vor gut einem Monat begonnen hatten. Vier Wochen waren nicht sehr viel, um die Zerschlagung eines weitverzweigten Schwarzhändlerringes vorzubereiten. Darum war es kaum verwunderlich, dass eine deutliche Nervosität in der Luft lag, als wir uns mit dem Rest unseres Teams und dem Einsatzleiter des Sonderkommandos zu einer letzten kurzen Besprechung trafen.

Es war eng in dem uralten, dunklen Lieferwagen, in dem unser Treffen stattfand, und stickig noch dazu, denn die Sonne knallte erbarmungslos auf das schmutzige Wagendach. Das Fahrzeug war so alt, dass es noch einen Verbrennungsmotor hatte und dementsprechend fehlte ihm jedwede Ausstattung, die die Insassen moderner Autos vor den bedrohlichen Atmosphärenwerten draußen schützte.

Zu allem Überfluss hatte die Klima- Überwachungszentrale schon ausgesprochen früh Schadstoffalarm ausgelöst, und so nahmen wir unsere Atemschutzmasken erst gar nicht ab, als wir uns zu acht auf der rostigen Ladefläche des Kleintransporters zusammendrängten.

Dumpf klang die Stimme des Einsatzleiters unter der Maske hervor, als er uns mit den letzten Informationen versorgte.

"Das Sonderkommando nimmt in diesem Moment seine Positionen rund um das Gebäude ein", erklärte er. "Einige werden versuchen, durch die Eingänge, die Sam und Jeff uns beschrieben haben, in die Halle einzudringen und sich dort zu postieren. Sobald Sie die Ware verifiziert haben, erwartet das Kommando Ihr Zeichen. Alles klar soweit?"

Jeff und ich nickten synchron.

"Sobald ich mich vergewissert habe, dass es sich um die erwartete Ware handelt, werde ich husten", sagte ich.

"Mach’ das bloß nicht vorher", scherzte einer der Kollegen. "Sonst geht das Feuerwerk zu früh los."

"Zu verstehen wäre es ja", meinte ein anderer. "Bei der Luft heute."

"Luft?", echote ein Dritter aus der hintersten Ecke des Wagens. "Wo?"

"Scherz beiseite", schaltete sich der Einsatzleiter ein. "Der Einwurf war nicht unberechtigt."

"Unsinn", meinte mein Partner. "Sam hat eine eiserne Selbstbeherrschung."

"Allein die hindert mich täglich daran", konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, "nicht einfach vom Balkon meines Apartments zu springen."

Nur Jeff wusste, wie wenig scherzhaft diese Bemerkung tatsächlich gemeint war.

"Sie wollen wirklich keine Panzerwesten tragen?", erkundigte sich der Einsatzleiter zum vielleicht zehnten Mal.

Ich schüttelte den Kopf. "Wir werden mit Sicherheit gefilzt. Die Westen würden uns verraten, noch bevor der große Zauber überhaupt losgegangen ist."

"Auf geht’s", meinte Jeff unternehmungslustig, zog sich die Maske vom Gesicht und rückte meine Strickmütze zurecht, die durch den Halteriemen meiner Maske verrutscht war.

Trockene Luft und der Gestank der überlasteten Kanalisation schlugen uns entgegen, als wir den Wagen verließen. Drei Blocks weit würden wir gehen müssen, um den Treffpunkt zu erreichen, aber bereits nach den ersten Schritten sehnten wir uns unsere Atemschutzmasken zurück. Allerdings waren wir hier in einem der heruntergekommensten Viertel der Stadt, wo sich niemand den Luxus einer Maske leisten konnte, und so mussten wir, wollten wir nicht auffallen, auf unsere verzichten.

"Bin ich froh, wenn der Mist hier erledigt ist", erklärte ich seufzend, wohl wissend, dass sowohl die Leute im Lieferwagen als auch das Sonderkommando rund um den Zielpunkt jedes Wort mithörten.

Jeff zog sich seine schäbige, verbeulte Baseballkappe vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch das schweißnasse dunkle Haar.

"Ich fühle mich absolut urlaubsreif", beichtete er mir.

"Rate mal wer noch", murmelte ich und fasste den Schulterriemen des fleckigen Seesacks fester, der ausländische Devisen in Millionenhöhe enthielt, als eine Gruppe von vier Jugendlichen auf uns zukam und uns nur zögernd vorbeiließ.

Ich gab mir keine Mühe, meinen Unmut zu verbergen, als ich mich noch einmal nach den vieren umsah.

"Wie ich es hasse", sagte ich. "Wer weiß, was die gerade vorhaben. Am liebsten würde ich sie sofort verhaften und in ein Ghetto stecken. Diese vier und alle anderen von ihrer Art gleich dazu."

"Ha", machte Jeff. "Da müsstest du aber vorher mindestens noch zehn weitere Ghettos bauen. Die bestehenden zehn wären bald hoffnungslos überlaufen."

"Abschaum", kommentierte ich.

"Und da wartet schon der Nächste auf uns", sagte Jeff, als wir in eine schmale Gasse einbogen, und deutete auf eine Gestalt, die im Schatten einer Feuertreppe stand und uns anstarrte.

"Lass es hinter uns bringen", schlug ich vor und beschleunigte meine Schritte.

Jeff beeilte sich, mir zu folgen.

Als wir nur noch wenige Meter von dem Mann entfernt waren, der offenbar auf uns wartete, trat er aus seiner Deckung und kam auf uns zu. Hinter ihm erschienen, Geistern gleich, drei weitere Männer wie aus dem Nichts. Deutlich konnten wir erkennen, dass sie unter ihren Jacken Waffen trugen.

"Ihr kommt spät", tadelte der Mann.

"Jetzt sind wir ja da", hielt Jeff gleichmütig dagegen.

"Ist das wirklich nötig?", fragte ich und deutete auf die Bewaffneten.

"Der Boss traut euch nicht", meinte der Mann mit leichtem Spott.

Jeff und ich wechselten einen amüsierten Blick. Dann gaben wir unsere Waffen an einen der vier Männer und ließen uns filzen.

Schließlich durften wir die Halle betreten.

Das weitläufige Gebäude war im Innern fast völlig leer, von Resten einstiger Lagerwaren und Abfällen auf dem Boden einmal abgesehen. Im Hintergrund der Halle befand sich ein ehemals mit Glaswänden eingefasstes Büro, aber nur zahlreiche Scherben auf dem Boden ließen noch den Zweck der kahlen, rostigen Rahmen erkennen.

Auf die Reste des Büros steuerten Jeff und ich zu.

Hinter einem Aluminiumschreibtisch, an dem wie durch ein Wunder der allgemeine Zerfall seines Standorts scheinbar spurlos vorübergegangen war, saß Thorben Skondar, der Mann, der Ziel unserer Operation war.

Vor ihm auf dem Tisch lagen zwei unförmige Beutel.

Mit einem huldvollen Nicken begrüßte Skondar uns. "Bringen wir das Geschäft also doch noch zu einem Abschluss", stellte er fest.

Jeff breitete entschuldigend die Arme aus. "Wir bedauern nicht minder, dass es so viel Zeit in Anspruch genommen hat", log er. Ich nickte dazu bestätigend.

"Ihr habt, was ich wollte?", erkundigte sich Skondar.

"Aber sicher", antwortete ich und ließ den Sack von der Schulter rutschen. "Zwei Millionen in ausländischen Devisen."

"Nicht einfach zu beschaffen", schaltete sich Jeff ein.

Skondar schlug mit der Hand auf einen der Beutel vor sich. "Diese Ware ist ihren Preis wert", versicherte er.

"Wir werden sehen", sagte ich mit gut gespielter Skepsis.

Skondar winkte einladend.

"Prüft sie", forderte er uns auf.

"Worauf du dich verlassen kannst", meinte Jeff, trat an den Tisch und öffnete den ersten der beiden Beutel.

Skondar streckte die Hand fordernd nach dem Seesack aus, und ich reichte ihn ihm. Wieder einmal stellte ich dabei Skondars Ähnlichkeit mit einer Heuschrecke fest, ein Eindruck, der durch seinen dunklen Kinnbart noch verstärkt wurde.

Während ich zum Warten verurteilt war, bis die Prüfung von Ware und Devisen abgeschlossen war, ließ ich, scheinbar gelangweilt, meinen Blick durch die Halle schweifen.

Anerkennend stellte ich fest, dass sich das Sonderkommando so geschickt verborgen hielt, dass selbst ich, mit einer vergleichbaren Ausbildung, nicht in der Lage war, die Männer auszumachen.

"Die Ware ist in Ordnung", riss mich Jeffs Stimme schließlich aus meinen Beobachtungen. "Bei dir auch alles zu deiner Zufriedenheit, Skondar?"

Der nickte.

Mein Blick in Jeffs Richtung war Warnung und Aufforderung zugleich.

Wie zufällig trat Jeff zwei Schritte zur Seite, bis die Betonsäule, in deren Nähe er sich befand, direkt in seinem Rücken war. Gelassen lehnte er sich dagegen.

Keine Sekunde später brachte ich einen Hustenanfall zustande, der so echt wirkte, dass ich meinte, Jeffs sorgenvollen Blick spüren zu können.

Fast augenblicklich folgte dem Signal der Angriff des Sonderkommandos.

Schwarz maskierte Gestalten in den typischen, silbern glänzenden Panzerwesten brachen mit den Waffen im Anschlag aus ihren diversen Verstecken hervor.

Draußen fielen die ersten Schüsse und auch in der Halle griffen Skondars Begleiter nach ihren Waffen.

Jeff und ich duckten uns in die lächerlich geringe Deckung zweier Säulen, als das Sonderkommando ohne Zögern das Feuer eröffnete.

Deutlich waren die Waffen der beiden Parteien voneinander zu unterscheiden; auf der einen Seite das helle Klingen leichter Handfeuerwaffen, dazwischen, erheblich seltener aber wirkungsvoller, die satten, dunklen Entladungen der schweren Polizeiwaffen, die, auf diese Distanz abgefeuert, eine verheerende Kraft entfalteten.

Jeder Schuss des Sonderkommandos fällte einen von Skondars Männern.

Die, die noch dazu in der Lage waren, erkannten rasch die Aussichtslosigkeit ihrer Situation, warfen ihre Waffen von sich und ließen sich, wo sie standen, mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf die Knie fallen.

Ein plötzlicher Aufschrei der Überraschung ließ mich in Jeffs Richtung blicken, und was ich sah, ließ mich unwillkürlich zusammenzucken.

"Geisel!", schrie ich dem Sonderkommando zu. "Polizist als Geisel!"

Die alarmierten Männer reagierten prompt.

Während sich einige wenige den inzwischen überwältigten und gefesselten Verdächtigen annahmen, kreisten die anderen innerhalb von Sekundenbruchteilen Skondar und Jeff ein.

"Einen Schritt weiter und euer Spitzel ist tot", drohte Skondar.

"Du weißt, dass wir darauf nicht eingehen werden", antwortete der Leiter des Kommandos, während seine Leute unbeeindruckt weiter vorrückten.

Nervös presste Skondar den Lauf seiner Waffe noch fester gegen Jeffs Schläfe.

Ich stand abseits, beobachtete die Szene und suchte fieberhaft nach einer Lösung.

Jedem Polizisten wurde bereits in der Grundausbildung eingeschärft, sich niemals mit einer Geisel erpressen zu lassen. Ich konnte mir absolut sicher sein, dass sich die Leute des Sonderkommandos genau daran halten würden, ungeachtet der Tatsache, dass die Geisel zu den eigenen Leuten gehörte. Sie würden Jeffs Tod in Kauf nehmen, wenn sie nur an Skondar herankamen.

Schritte vom Eingang her ließen mich herumfahren.

Ein Mann des Sonderkommandos kam herein, einer der Scharfschützen, seine hochmoderne Präzisionswaffe lässig in der Armbeuge. Offenbar sollte er die Lage aus der Distanz erkunden.

Da sah ich meine Chance.

Eilig lief ich zu dem Mann hinüber und brachte ihn nach einem kurzen, aber heftigen Disput dazu, mir seine Waffe auszuhändigen.

Dann sprintete ich die Treppe zu einer baufälligen Zwischenetage hinauf. Der Boden unter meinen Füßen knarrte bedenklich und ich konnte trotz des Tumults unten in der Halle hören, wie unter mir Putz und Holzsplitter zu Boden fielen. Ich versuchte, es zu ignorieren.

Ich brauchte nicht lange, um eine Stelle zu finden, von der aus ich freien Blick auf Skondar und Jeff hatte.

Das Sonderkommando hatte inzwischen seinen Ring so eng gezogen, dass Waffenlauf neben Waffenlauf in Skondars Richtung drohte.

Ich erkannte die Anzeichen, den Schweiß auf Skondars Stirn, das nervöse Zittern seiner Lippen, den gehetzten Blick. Viel Zeit um einzugreifen blieb mir nicht mehr.

Eilig kniete ich mich hin und brachte das Gewehr auf einer recht stabil aussehenden Strebe eines Geländers in Anschlag. Die Waffe war nicht auf mich eingestellt und das Zielfernrohr entsprach nicht meiner Sehschärfe, aber in Anbetracht der Situation musste ich mich mit dem zufriedengeben, was ich zur Verfügung hatte.

Durch die Optik des Zielfernrohres rückte Skondar so nah, dass ich problemlos jedes Haar seines übertrieben gepflegten Kinnbartes erkennen konnte. Unbeirrbar rückte das Fadenkreuz zwischen Skondars Augen. Aber auch ein Teil von Jeffs grüner Mütze befand sich viel zu nah am Mittelpunkt der Optik.

Von unten hörte ich Skondars aufgeregte Stimme und die gelassenen Antworten des Kommandoleiters.

Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch, um meine Nerven zu beruhigen, dann visierte ich mein Ziel erneut an.

Genau in diesem Moment hob Jeff den Blick und sah zu mir hinauf. Sein kaum wahrnehmbares Nicken half mir bei der endgültigen Entscheidung.

Entschlossen zog ich den Abzug.

Der Schuss klang wie eine Explosion in meinen Ohren und die Waffe schlug gegen meine Schulter.

Ich nahm es kaum wahr. Gebannt beobachtete ich, was unten in der Halle geschah.

Skondars Kopf flog nach hinten, der Mann wurde herumgerissen und dabei löste sich der Lauf seiner Waffe von Jeffs Schläfe. Als er hintenüber stürzte, riss er Jeff mit sich, so fest hielt er mit dem Arm den Hals seiner Geisel umklammert.

Die Männer des Sonderkommandos stürmten vor.

Zahlreiche behandschuhte Hände griffen zu, rissen Jeff vom Boden hoch und von Skondar fort, während sich mehrere Waffen noch immer auf ihn richteten.

Ein wenig taumelnd stand Jeff abseits, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und winkte dann zu mir hinauf.

Erst jetzt setzte ich das Gewehr ab. Als ich erleichtert ausatmete, kam mir zu Bewusstsein, dass ich den Atem angehalten hatte. Eilig kam ich auf die Beine und suchte mir meinen Weg über den morschen Boden zurück zur Treppe.

Am Fuß der rostigen Stiege wartete der Scharfschütze, um sein Gewehr wieder in Empfang zu nehmen. Er klopfte mir anerkennend auf die Schulter, als er die Waffe entgegennahm, und stapfte wortlos hinaus.

Sekunden später stand Jeff vor mir.

Eine Weile sahen wir uns schweigend an.

"Danke", sagte er dann schlicht.

Ich lächelte ihm zu, zog mir die lästige Mütze vom Kopf und fuhr mir durchs Haar.

Jeff grinste zurück. "Lass uns von hier verschwinden", schlug er vor.

Ich sah dorthin, wo einige Männer des Sonderkommandos Skondars Leiche abtransportierten.

"Ja", stimmte ich müde zu. "Hier haben wir nichts mehr verloren."