Leseprobe: Bloodspell - Es lebe die Nacht!

Cover Bloodspell

Die Bässe, zu deren energischem Rhythmus die Models den Laufsteg entlangflanierten, waren so laut, dass der Boden bebte. Die Reflexe der Scheinwerfer huschten über die Decke der Halle, und ein beständiges Flimmern von jenseits des Vorhangs ließ das Blitzlichtgewitter der Fotografen erahnen. Applaus brandete auf und ab wie das Rauschen des Meeres, eingebettet in das Raunen von zahlreichen Stimmen.

Viva zog den Vorhang einen Spalt weit zur Seite, um einen Blick hinaus zu erhaschen. In der ersten Reihe konnte sie zahlreiche bekannte Gesichter ausmachen, Schauspieler, Musiker, Modedesigner und noch andere, deren Namen regelmäßig durch die Medien gingen. Alle waren sie gekommen, um ein Auge auf die neue Kollektion von „Viva la Noche“ zu werfen. Aktuell präsentierten die Models die Sommermode – weiche, leicht transparente Stoffe in fließenden Formen, kombiniert mit strengen, hochgeschlossenen Schnitten aus Leinen oder Samt. Dunkle, altertümlich anmutende Muster standen in krassem Widerspruch zu hellen, natürlichen Farben, weiße oder schwarze Spitze kontrastierte mit lebhaft frechen Pastelltönen.

Lächelnd wandte sie sich um und ließ den Blick über den Backstage- Bereich schweifen. Überall pulsierte das Leben. Fleißige Helfer schoben Kleiderständer umher, reichten Schuhe von Hand zu Hand, bis diese schließlich die Füße erreichten, für die sie gedacht waren. Mitarbeiter des Caterings huschten mit Getränken umher, überwiegend mit Wasserflaschen, aber Viva entdeckte auch kastenweise Cola Light. Stellwände waren mit Fotoreihen beklebt, die die verschiedenen Make- ups, Frisuren und Kleiderstyles dokumentierten. Viele davon waren bereits mit kreisrunden, roten Aufklebern als „erledigt” markiert, ein klares Zeichen dafür, dass sich die Präsentation dem Ende zuneigte.

„Vivaaa!“

Einen Atemzug lang rang sie mit sich, ob sie lächeln oder genervt die Augen verdrehen sollte.

Dieser gleichzeitig leidende wie bettelnde Tonfall gelang nur einem. Ihrem Assistenten Dennis. Das Lächeln gewann die Oberhand, als sie an ihn dachte. Neunundneunzig Prozent der Zeit, die er für sie arbeitete, war er ein Organisationstalent, Problemlöser, Fragensteller, Kaffeekocher, Entwürfesortierer, Stoffballenschlepper, Anrufbeantworter, Krisenmanager und Presseabwimmler par excellence. Kein Chaos, das er nicht entwirrte, kein Problem, das er nicht in den Griff bekam.

Aber – wie gesagt – nur zu neunundneunzig Prozent. An Tagen wie diesem neigte er dazu, sich wegen des kleinsten Missgeschicks in ein zeterndes, hilfloses Nervenbündel zu verwandeln. Dann war es, als tauschten sie die Rollen, als bedürfte er vielmehr ihrer Assistenz als umgekehrt.

Dennis’ Stimme drohte zu kippen, und Vivas Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen.

Nein, sie konnte ihm einfach nicht böse sein.

Schwungvoll schlängelte sie sich zwischen Kleiderständern, Klappstühlen, Tischchen, Spiegeln, herumliegenden Schuhkartons und Hutschachteln hindurch, wich den Haarspraywolken der Stylisten ebenso aus wie den Models, die unter den flinken Händen der Make-up-Künstler in eine Art Duldungsstarre verfallen waren. Im Vorbeigehen richtete sie hier einen Kragen, zog da einen Faltenwurf zurecht, zupfte dort eine Fluse von schimmerndem Stoff.

Vivas Lächeln vertiefte sich noch einmal. Hier hatte sie das Gefühl, genau dort zu sein, wo sie hingehörte, konnte spüren, wie das Leben um sie herum pulsierte. In Momenten wie diesem war sie glücklich.

Beschwingten Schrittes erreichte sie Dennis. Ein Blick in sein Gesicht, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Dem paradiesvogelartig schrill gekleideten und geschminkten jungen Mann standen die Tränen in den Augen, und Viva war sich sicher, dass allein die drohende Zerstörung seines perfekten Make-ups ihn daran hinderte, ihnen freien Lauf zu lassen.

Dennis hielt einen glänzenden blauen Schuh in der einen Hand, den dazugehörigen strassbesetzten Stilettoabsatz in der anderen. Wortlos streckte er ihr beides entgegen, wie ein Kind, das erwartete, dass seine Mutter ein zerbrochenes Spielzeug reparierte.

Es kostete Viva nur einen Blick, um zu erkennen, dass der Schuh verloren war.

„Wirf das Ding weg. Der Schuh ist hinüber“, klatschte sie ihrem Assistenten die grausame Wahrheit um die Ohren.

„Aber Anna soll doch ...“

Hilflos sah er zu der jungen Frau in Blau und Silber, die neben ihm stand wie ein Storch im Salat, unbegreiflicherweise auf dem verbliebenen Stiletto balancierend, während sie den schuhlosen Fuß unter den vielen Stofflagen ihres Kleides versteckte.

„Ja, Anna sollte ...“, erwiderte Viva, während sie in Gedanken gleichzeitig verschiedene Lösungsmöglichkeiten durchspielte. „Und Anna wird auch. Nur eben ...“

Sie unterbrach sich, als Anna nun doch das Gleichgewicht verlor und den schuhlosen Fuß auf dem Boden absetzte. Silberner Nagellack schimmerte kurz auf und brachte sie auf eine Idee.

„Ausziehen!“, kommandierte sie und zeigte auf den verbliebenen Stiletto.

Anna und Dennis sahen sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Aber ganz offenbar ließ ihr Gesichtsausdruck keinen Widerspruch zu, denn Anna schüttelte tatsächlich den Schuh vom Fuß.

Viva sicherte sich den ewigen Hass eines Make-up-Artists, als sie kommentarlos einen seiner Flüssig-Eyeliner ergriff, vor Anna auf die Knie fiel und mit schnellen Strichen das Muster des blauen Stoffs auf die Knöchel und Fußrücken des Models malte.

„Was immer du da machst, mach es schnell.“ Das war Brigid, Vivas zweite Assistentin, in ihrer unnachahmlich trockenen Art. „Die Abendkleider gehen in zwei Minuten los.“

Viva grub sich aus den Stoffschichten des Rocks hervor, unter die sie halb gekrochen war.

„Das da ...“ Sie zeigte auf ihr improvisiertes Kunstwerk. „... für alle Kleider, die die Knöchel freilassen.“

Brigid sah sie perplex an, Dennis machte ein Gesicht, als wäre er kurz vor einem Herzinfarkt, und Anna begann zu kichern.

Brigid bewies wieder einmal, dass sie nicht umsonst Vivas verlängerter Arm war. Nach knapp einer Sekunde, während der sie scheinbar gedankenverloren eine Strähne ihres blonden Haars zwischen den Fingern drehte, schluckte sie ihr Erstaunen herunter, wirbelte auf dem Absatz – der immerhin stolze zehn Zentimeter maß – herum und begann Befehle zu rufen wie auf einem Kasernenhof. Binnen Sekunden hatte sie die Aufmerksamkeit aller Beteiligten, standen einige Models barfuß herum, waren die Visagisten um einige Flüssig-Eyeliner ärmer und krochen eifrige Helfer zwischen gerafften Röcken und bloßen Füßen herum.

Exakt zwei Minuten später führte Anna in einem Traum von Blau und Silber die Präsentation der Abend- und Ballkleider an. Viva glaubte beinahe, hören zu können, wie das Publikum angesichts der kunstvoll bemalten Modelfüße tuschelte und raunte.

„Was für eine Idee“, stöhnte Dennis neben ihr. „Du bist ja völlig wahnsinnig.“

Viva staunte immer wieder, wie leise er sich trotz seiner fast zwei Meter Körpergröße bewegen konnte. Sie hatte ihn beinahe nicht kommen hören. Weil sie wusste, wie stolz er auf diese Eigenschaft war, tat sie ihm den Gefallen und zuckte leicht zusammen. Ehe sie jedoch antworten konnte, stürzte er schon wieder davon, um wie ein aufgescheuchtes Huhn um ein bordeauxfarbenes Chiffonkleid herumzuflattern, an dessen Sitz ihm irgendetwas nicht zu gefallen schien.

Weiter hinten fiel mit einigem Getöse ein Schminkkoffer von einem der Tische, und der bunte Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Die Eigentümerin tauchte mit einem entsetzten Quietschen hinterher. Viva hoffte, dass die Musik draußen laut genug gewesen war, um das Missgeschick zu übertönen. So schnell, wie ihr dieser Gedanke gekommen war, verschwand er auch wieder, denn die Modenschau neigte sich dem Ende zu.

Zitternd vor Aufregung stand Viva eine Weile später hinter dem Vorhang, der zum Catwalk führte.

Aus den Lautsprechern drangen die ersten Töne des Intros „ihrer“ Hymne. Der große Moment rückte näher. Ihr Moment.

Der Vorhang wurde auseinandergezogen, und zwei Models reichten ihr die Hand. Bildschöne, barfüßige Frauen in eleganten Abendkleidern. Die energiegeladenen Bogenstriche eines bekannten Stargeigers, untermalt von harten, treibenden hundertachtzig Beats pro Minute, verliehen der Arie der Königin der Nacht aus Mozarts „Die Zauberflöte“ eine ungeahnte, pulsierende Kraft.

Eingerahmt von ihren Haute-Couture-Kreationen und umgeben von dynamischen Geigenklängen, nahm sie vor Freude strahlend stehende Ovationen entgegen.


„Wieder einmal gelang es Viva Auldwin, Chefin des sehr gefragten Modelabels „Viva la Noche“, die Fachwelt ebenso wie die geneigten Gäste der Fashion Week in Erstaunen zu versetzen, als sie einen Teil ihrer Models bei der Präsentation ihrer Abend- und Ballgarderobe barfuß gehen ließ. Den Widerspruch zwischen edlen, extravaganten Stoffen und bloßen Füßen unterstrich die innovative Designerin noch zusätzlich, indem sie den Models die Muster der Stoffe auf die Füße malte. Die Zuschauer waren restlos begeistert.
Viva, die ihr Modelabel vor einigen Jahren wortwörtlich aus dem Nichts heraus startete, bewies damit wieder einmal, dass sie immer für eine Überraschung gut ist. Auch in diesem Jahr gelang es ihr, sich stilsicher von der Konkurrenz abzuheben. Dabei blieb sie ihrem persönlichen Stil und Markenzeichen weiterhin treu und ließ auch bei ihrer diesjährigen Kollektion Merkmale einer besonderen Modeepoche einfließen. Waren es im letzten Jahr noch Merkmale des Empire, präsentierte Viva ihren Bewunderern mal mehr, mal weniger dezente Elemente der viktorianischen Mode. Schmale Taillen, schmale Röcke, Spitze und gewagte Anlehnungen an die damals obligatorischen Tournüren dominierten die Präsentation, innovativ verbunden mit leichten, bunten Stoffen, Transparenz, Silber- und Goldglanz.
Bereits im letzten Jahr rissen sich die Stars von Cannes bis Hollywood darum, Vivas Kreationen über die roten Teppiche zu tragen, und die Zeichen stehen gut, dass es dieses Jahr ebenso sein wird. Erste Stimmen spekulieren schon jetzt, bei welcher Stilepoche sich die junge Designerin die Inspiration für ihre nächste Kollektion holen wird. Welche auch immer es sein mag, sicher ist, „Viva la Noche“ wird uns gewiss wieder in Erstaunen versetzen.“

Brigid ließ ihr Tablet sinken, von dem sie den Artikel aus einem der angesagtesten Modeblogs vorgelesen hatte, und strahlte in die Runde. „Alles richtig gemacht, würde ich sagen.“ Dennis lehnte sich in Vivas heiß geliebtem Ohrensessel zurück und nippte an einer Tasse Earl Grey. „Zum Glück.“ Irgendwie klang er verschnupft, stellte Viva fest und überlegte, ob er ihr den spontanen Umsturz seiner sorgfältigen Planung nachtrug. „Ich hätte fast einen Herzanfall gekriegt“, beschwerte er sich weiter. „Die Presse und die Blogger sind Gott sei Dank positiv darauf angesprungen. Das hätte aber auch ganz anders laufen können.“ Verglichen mit seinem schrillen Outfit am Abend der Modenschau vor zwei Tagen sah er heute geradezu dezent aus. Bis auf etwas Kajal, der farblich exakt zu seinem fliederfarbenen Cashmerepullover passte, hatte er komplett auf Make-up verzichtet. Das Glanzgel in seinem extrem kurz gehaltenen schwarzen Haar war an ihm mittlerweile so alltäglich, dass es Viva kaum noch auffiel.

„Die Visagisten wollen übrigens ihre Eyeliner ersetzt haben“, fuhr er fort, und seinem Tonfall war zu entnehmen, dass ihn dieser Umstand zutiefst empörte.

Viva wandte sich von dem Panoramafenster ab, durch das sie die bleigrauen Sturmwolken beobachtet hatte, die sich über London zusammenballten.

„Gib ihnen wieder, was immer ihnen fehlt“, beschloss sie. „Von mir aus ersetze auch gleich den Schminkkoffer, der runtergefallen ist.“ Im Vorbeigehen setzte sie Muse, die sie bisher auf dem Arm gehalten hatte, auf Dennis’ Schoß ab. Sie ignorierte seinen protestierenden Aufschrei und goss sich in der Küche ein Glas Wasser ein. Schmunzelnd beobachtete sie, wie Dennis das Angorakaninchen eilig wieder hochhob, doch das flauschige, weiße Fellknäuel hatte bereits Spuren auf seiner tiefschwarzen Edeljeans hinterlassen.

Grummelnd machte sich Dennis daran, die Kaninchenhaare von seiner Hose zu zupfen. Muse genoss unterdessen die Freiheit auf dem Fußboden und hoppelte munter unter den Couchtisch. Niemand störte sich daran. Alle, die in Vivas Loft ein und aus gingen, waren daran gewöhnt, dass die Designerin ihre Kaninchen überall frei herumlaufen ließ. Die Tierchen waren allesamt stubenrein und benutzten artig die aufgestellten Katzenklos.

„Und?“ Viva lehnte sich auf die Theke, die die Küche zum Wohnbereich hin begrenzte. „Was sagt die Post?“ Brigid hatte mittlerweile ihr Tablet weggelegt und wühlte sich durch den großen Haufen der täglichen Korrespondenz. „Rechnungen“, gab sie Auskunft und sortierte die Briefe vor sich auf dem Tisch in verschiedene Stapel. „Fanpost, Interviewanfragen – per Post, wie altmodisch –, ein paar Einladungen ...“

„Einladungen!“, rief Viva in die Aufzählung hinein. „Vielleicht ist was Spannendes dabei.“

Brigid griff den mit Abstand kleinsten Stapel und blätterte ihn durch. Sie murmelte dabei vor sich hin, und Viva war sich nicht sicher, ob ihre Assistentin gerade Absender vorlas oder fiese Kommentare über die zum Teil extravagant gestalteten Umschläge machte. Bei einem eher schlichten, silbergrauen machte sie halt.

„Steven“, sagte sie nur und verzog das Gesicht. „London.“ Dennis stöhnte gekünstelt auf.

Viva seufzte.

„Was will er?“

„Er stellt seine Fotos aus“, las Brigid die Karte vor. „Mal wieder. Nur für geladene Gäste.“

„Hat er nicht erst vor drei Monaten eine Ausstellung eröffnet?“, fragte Dennis.

„Ja, aber das waren nicht seine Bilder. Das waren die seiner momentanen Frau.“

Viva kam um die Theke herum und ließ sich auf ein freies Stück Couch fallen. Muse nahm Anlauf und landete auf ihrem Schoß, kaum dass sie die Polster berührt hatte.

„Wenn es dieses Mal wieder so langweilig wird ...“ Sie ließ das Ende des Satzes offen und verzog angewidert das Gesicht.

„Aber du musst hin“, behauptete Brigid. „Wenn du dich da nicht blicken lässt, ist dir Steven monatelang böse. Und in ein paar Wochen haben wir mit ihm das Shooting auf Mallorca.“

Viva sackte resigniert in sich zusammen. Muse nutzte die Gelegenheit, sich knapp unter ihrem Brustbein auf ihren Bauch zu kuscheln. Gedankenverloren ließ sie ihre Finger durch das weiche Fell wandern.

„Warum muss denn bloß der beste Modefotograf, den ich finden konnte, gleichzeitig so eine Diva sein“, beschwerte sie sich.

„... sagt die Frau, die ihr Loft zu einer Kaninchenspielwiese gemacht hat, statt sich wie jeder normale Mensch eine Katze oder einen Hund zu halten“, stichelte Dennis und pulte immer noch weiße Haare von seiner Kleidung.

„Wie lang ist denn meine Galgenfrist?“

„Kurz“, antwortete Brigid knapp. „Nächste Woche Freitag.“

„Das ist ja wirklich nicht mehr lang“, stöhnte Viva und hob Muse vor ihr Gesicht, um ihre Nase an dem weichen Kaninchennäschen zu reiben. Muse sah sie mit großen Knopfaugen an. „Und das, obwohl ich noch keine Idee habe, was ich anziehen soll.“


Es war gar nicht so einfach, sich die Langeweile nicht anmerken zu lassen, wenn man ununterbrochen von Fotografen umzingelt war. Viva war dankbar für die Wassergläser aus dunkelrotem Glas, die groß genug waren, um gelegentlich das gelangweilte Gesicht dahinter zu verstecken, während sie so tat, als nähme sie einen Schluck Wasser. Dabei war es nicht einmal die Vernissage als solche, die diesen Effekt auf sie hatte. Der Ausstellungsraum allein war schon ein Hingucker, und auch die Fotos, sparsam auf dunkelroten Stellwänden platziert, waren größtenteils jede Aufmerksamkeit wert.

Es war vielmehr der Gastgeber Steven, der die Nerven seiner Gäste strapazierte. Seit einer geschlagenen halben Stunde stand er nun schon auf einem Podest inmitten seiner Werke und hielt eine wortgewaltige Laudatio auf sich und seine Kunst. Es stand außer Frage, dass er als Fotograf ein Ausnahmetalent war, auf seine Redekunst traf das allerdings kein bisschen zu. Er las mit beharrlich monotoner Stimme seine Rede von einem dicken Stapel Karteikarten ab. Die Passagen, bei denen er sich unsicher fühlte, verriet er durch lange Pausen, gefüllt mit „äh“s und „hmm“s, während er bei den Teilen, die ihm besonders zu gefallen schienen, schneller und lauter sprach. Dass es ihm selbst in diesen wenigen Momenten gelang, seinen leiernden Ton unverändert beizubehalten, erschien Viva geradezu phänomenal.

Längst hatte sie ihren Platz, der in weiser Voraussicht etwas abseits des Rednerpodests gewesen war, verlassen und wanderte zwischen den Fotos umher. Steven hatte sich als Porträtfotograf versucht, und was dabei herausgekommen war, gefiel Viva sehr. Er spielte mit Kontrasten, inszenierte alltägliche, ungeschminkte Gesichter ganz durchschnittlicher Menschen vor makellosen, stylishen Hintergründen. Umgekehrt setzte er die makellosen, perfekt gestylten Gesichter von Models vor verkommenen, zerfallenen Kulissen in Szene. Das eine oder andere Gesicht erkannte Viva wieder, hatte sie es doch erst letzte Woche während der Fashion Week gesehen.

Viva stieg eine schmale Treppe hinauf und ließ von diesem erhöhten Standort den Blick schweifen. Der Ausstellungsraum der Galerie war einem alten U-Bahnhof nachempfunden.

Baker Street, kam ihr dazu am ehesten in den Sinn. Wie dort fiel auch hier ein Teil der Beleuchtung durch Lichtschächte herein, die bei genauerem Hinsehen keine waren. Die gewölbte Decke war mit einem Muster bedeckt, das Backsteinziegel imitierte, und die freie Fläche zwischen den „Bahnsteigen“ war mit glänzenden Fliesen ausgelegt, die tatsächlich den Eindruck vermittelten, auf Schienen hinabzublicken. Steven sprach immer noch und machte auch keine Anstalten, zu einem Ende zu kommen. Amüsiert bemerkte Viva, dass viele Gäste es ihr mittlerweile gleichtaten und zwischen den ausgestellten Bildern umherflanierten. Nur wenige nervenstarke Zuhörer harrten noch vor dem Podest aus. Für einen Moment überlegte Viva, wie respektlos das gegenüber dem Gastgeber war, doch Steven schien sich daran nicht zu stören. Er war völlig vertieft in die Lobrede auf sich selbst.

Also rang Viva den kurzen Anflug eines schlechten Gewissens nieder und sah sich weiter um. Unwillkürlich wanderte ihre Aufmerksamkeit zu der Abendgarderobe der Anwesenden. Die meisten Gäste entstammten selbst der Londoner Fotografen- und Künstlerszene, weshalb ein extrovertierter Stil schon beinahe zum guten Ton gehörte. Vivas professioneller Blick erkannte einige Prêt-à-porter-Modelle vergangener Kollektionen ihrer Konkurrenz, schrille Outfits und Accessoires, die nur Eigenkreationen sein konnten, einen Mann in einem Kilt mit – Viva schauderte – einem Tartan in Neonfarben. Viel zu viele Möchtegern-Designerjeans im Usedlook, Hoodies und Baggypants, die noch deutlicher fehl am Platze wirkten als der Neonschotte. Dazwischen strenge zwei- oder sogar dreiteilige Anzüge in gedeckten Farben und schlichte, knielange „Kleine Schwarze“ von der Stange.

Plötzlich fing ein elegantes silbergraues Sakko ihren Blick ein, bot ihr eine Insel der Ruhe inmitten all dieser Modesünden. Ein lose umgelegter anthrazitfarbener Schal verdeckte spielerisch ein gleichfarbiges Hemd. Eine schwarze, schmale Hose, perfekt abgestimmte Schuhe. Viva war hingerissen.

Dann wandte sich der Träger dieser Stiloffenbarung um. Vivas Herz machte einen kleinen Satz.